Biebzra-Nationalpark, 3. Juni- 6. Juni
Der Weg vom Siemianówka-Stausee nach Biebrza wurde uns recht lang, zudem schien inzwischen endlich einmal richtig die Sonne. Im Auto war es warm. Wir passierten unterwegs die Stadt Białystok und erreichten schließlich das Gebiet des Nationalparks, das zunächst gar nicht so aussah, wie wir es uns vorgestellt hatten. Der Biebrza-Nationalpark schützt ein riesiges Flußsystem mit ausgedehnten Feuchtwiesen. Aber es ist auch der größte Nationalpark Polens, und so barg er auch genügend Platz für Wälder, wie wir ihnen zuerst begegneten. Zumeist bestand der Wald auch nur aus Monokulturen. Außerdem gab es, zumindest an seiner südöstlichen Grenze, gar keine richtigen Orte, sondern am Wegesrand nur verstreute Ansammlungen von Häusern, kleine Weiler, deren Häuser zum größeren Teil verlassen waren. Der Biebrza-Nationalpark, benannt nach den vielen im Gebiet vorkommenden Bibern, zeigte seine Schönheit erst auf den zweiten Blick.
Wir folgten einer Empfehlung unseres Naturreiseführers und folgten der sogenannten Zarenstraße, bis wir den Abzweig zu einem Zeltplatz in dem kleinen Ort Budy erreichten. Der Weg über Waldsandpisten führte uns zu einem Ort auf einer sehr großen Lichtung, der, so weit man das überblicken konnte, nur aus vier Häusern bestand: eines war abgebrannt, ein weiteres verlassen, ein drittes Haus schließlich war zugesperrt. Nur das vierte, ein sehr altes Holzhäuschen, schien bewohnt.
Direkt daneben befand sich ein einfacher Zeltplatz mit Feuerstelle, Plumpsklohäuschen und einem Ziehbrunnen. Niemand zeltete dort. Es war sehr heiß und man sah noch immer nichts vom Fluß oder seinen Feuchtgebieten. Das gefiel uns zunächst überhaupt nicht. Alles war still, nur die Mücken summten. Im Haus, dessen Türen offenstanden, hielten sich zwei kurzgeschorene polnische Jungen auf, denen wir wegen der Sprachbarriere gerade einmal den Preis für die Übernachtung auf dem Zeltplatz entlocken konnten, lächerliche 10 Złoty (2,50 Euro), von denen man auch in Polen nicht lange würde leben können. Nach einer kurzen Auseinandersetzung, ob wir wirklich an diesem seltsamen Ort bleiben sollten oder nicht, bauten wir unser Zelt schließlich auf. Die Jungs fuhren mit Fahrrädern davon, nun waren wir scheinbar vollkommen allein. Der Zeltplatz schien am Ende der Welt zu sein, einsam und von einfachstem Standard. Und dennoch war er sehr gut gepflegt, was alles noch seltsamer anmuten ließ. Um eine Feuerstelle herum waren erst kürzlich Sitzgelegenheiten gebaut worden, überall standen Wasserkanister bereit, die nur befüllt werden mussten, es gab eine Kochstelle, einen Unterstand und ein mit Bretterverschlag, in dem man nach einem ausgeklügelten System mit einem im Ziehbrunnen gefüllten Wasserkanister duschen konnte.
Nachdem wir uns das alles genau angesehen und auch den Ziehbrunnen mal ausprobiert hatten, gingen wir zum Holzhäuschen, um nachzusehen, ob dort vielleicht noch jemand war. Vor dem Häuschen wuchsen Blumen, und ein kleiner Tisch mit Stühlen war aufgestellt. Die Haustür stand weit offen, aber auf unser Rufen und Klopfen reagierte niemand.
Nachdem das Zelt aufgebaut war, fuhren wir mit dem Auto wieder zurück auf die asphaltierte Hauptstraße im Wald und dort einige Kilometer nach Süden zu einem Weg, der durch Erlenbruchwald endlich in die Seggenwiesen führte.
Hier sah es nun so aus, wie wir es erwartet hatten. Die Mücken piesackten uns. Am Wegesrand wuchs Hainwachtelweizen, eine Pflanze, die wir bis dahin noch nie irgendwo gesehen hatten, und mitten auf dem Weg saß ein riesiger schwarzer Bockkäfer. Nach langer Zeit des Laufens durch den Erlenbruchwald, breiteten sich vor uns Feuchtwiesen bis zum Horizont aus, und endlich erreichten wir einen Aussichtsturm. Kaum oben angekommen, hatte Diana durch das Fernglas einen Elch entdeckt. Das war eine schöne Überraschung. Leider hatten wir das schwere Spektiv im Auto gelassen. In einiger Entfernung beobachteten wir noch die immer seltener werdenden Seggenrohrsänger. Bekassinen zeigten ihren Balzflug. Nach einer Weile machten wir uns auf den langen Fußweg zurück, damit wir noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder am Zeltplatz ankommen würden. Vielleicht, so dachten wir, war nun auch der Besitzer des alten Häuschens zurückgekommen. Aber auch jetzt trafen wir niemanden, nur ein kleiner Hund mit gefährlich aussehendem schiefen Rückbiß war irgendwoher aufgetaucht und begrüßte uns schwanzwedelnd. Er gehörte offenbar zum Haus und zum Zeltplatz. Manchmal fing er an zu bellen und zu heulen, als erwarte er die Ankunft seines Herrchens.
Während Ringo unter Beobachtung des kleinen Hundes das Essen bereitete, nutzte Diana das kalte Brunnenwasser für eine Dusche hinter dem Bretterzaun.
Alles wirkte surreal: die Hitze, die einsame Lichtung mit den verlassenen Häusern, der gepflegte Zeltplatz, der bellende Hund. So viele Zeichen von Leben und doch keine Menschenseele. Eine ähnliche Stimmung mußte in Pompeji geherrscht haben, als sich der Vesuv nach seinem todbringenden Ausbruch beruhigt hatte.
Dann begann die Nachtschwalbe zu singen und hörte die ganze Nacht nicht wieder auf. Ringo rannte hin und her, um sie zu sehen, aber er hatte kein Glück. Etwas knackte im Gebüsch und große braune Tiere kamen zum Vorschein.
Unser erster Gedanke an Elche war jedoch falsch. Es waren junge Kühe, die auf der an den Zeltplatz angrenzenden Weide wild im Gestrüpp umhersprangen. Später zeigten sich dort auch Tarpanpferde, nachdem wir zunächst angenommen hatten, die Weide wäre leer.
Außerdem konnte Diana in der Dämmerung eine vorbeifliegende, laut schnarrende Waldschnepfe sehen. Der Wendehals rief immerzu. Von weiter her konnten wir die Rufe Rotbachunken und der Rohrdommel hören. Heidelerchen flogen im Singflug über die Lichtung. In der Nacht jaulte und bellte der Hund immerzu.
Am nächsten Morgen erwachten wir beim schönsten Vogelkonzert, doch ein Blick in den Himmel verriet uns, daß der Sommer wohl nur ein kurzes Intermezzo gegeben hatte. Beim Bereiten des Frühstücks tauchte wieder der kleine Hund auf und bald danach auch sein inzwischen eingetroffenes Herrchen. Hier, mitten im Nirgendwo, konnte dieser ältere Mann in zerschlissener Kleidung sogar ein bisschen Englisch und Deutsch. Er erzählte uns von von Polen, die nach Chicago ausgewandert waren und einem im Spätsommer hier stattfindenden Filmfestival.
Bald verließen wir in gedämpfter Stimmung diesen schönen Zeltplatz. Der Komfort war gering, die Anfahrt über die sandigen Waldwege schwierig, die Mücken hartnäckig, und dennoch hatten dieser Platz, diese Lichtung mit den vielen sonst so seltenen Tieren einen eigenartigen Zauber, der uns nicht losließ. Der kauzige Verwalter, der sicher, wenn wir nur Polnisch verständen, aus seiner Waldeinsamkeit noch viele Geschichten hätte erzählen können, tauchte den Ort in ein noch zauberhafteres Licht.
Doch wir fuhren weiter nach Osowiec-Twierdza zur Nationalparkverwaltung, danach suchten wir wegen des schlechten Wetters im nächstgrößeren Ort Goniądz ein Zimmer. Auf dem Dach saß ein Storch, so fiel uns die Entscheidung für diese Unterkunft nicht schwer, Das Zimmer, inklusive einer großen Küche, befand sich in einem sehr alten Haus, das wir nur für uns alleine hatten. Unser Gastgeber war ein begeisterter Angler.
Das anhaltend schlechte Wetter, inzwischen war es wieder sehr kalt geworden, und die immer wieder auftretenden Regenschauer zeigten uns, daß es die richtige Entscheidung war, den Zeltplatz zu verlassen, denn bei Regen im Zelt frierend verliert der schönste Ort seinen Reiz.
So unternahmen wir eine Autofahrt um den südlichen Teil des Nationalparkes. Wir stoppten an jedem Aussichtspunkt, der uns einen Blick in den Nationalpark oder seine reizvolle Umgebung erlaubte. Insgesamt konnten wir an diesem Tag fünf Elche beobachten. Wir sahen in den Wiesen nahe der Ortschaft Zajki Weißflügel-Seeschwalben, viele Kiebitze und Uferschnepfen sowie rufende Bekassinen, jedoch keine Kampfläufer. Diese Wiesen zählten zum Schönsten, das wir in Polen gesehen hatten. So mußte es vor Jahrzehnten in Deutschland an sehr vielen Stellen ausgesehen haben, bevor Flurbereinigung und Intensivlandwirtschaft dies zerstörten.
Als wir schließlich die Straße von Ełk nach Monki erreichten, die den Park in seiner Mitte durchschneidet und uns zurück auf die östliche Seite bringen würde, stellten wir fest, daß wir die Ausdehnung des Nationalparks um einiges unterschätzt hatten, denn wir hatten schon eine sehr große Strecke zurückgelegt und dabei doch nur den südlichen Teil der Biebrza-Sümpfe kennengelernt.
Leider hatte der Regen schon vorher wieder an Stärke zugenommen, sodaß wir dann nur noch einen Supermarkt in Monki suchten und von unserem letzten polnischen Geld etwas zum Essen einkauften. Am Sonntag hatte keine Wechselstube geöffnet und Kreditkarten wurden in den wenigen offenen Läden nicht akzeptiert.
Als wir abends die einzeln stehenden Betten zusammenschoben, fanden wir zwei große schwarze Totenkäfer, die auf dem Rücken liegend schon eingestaubt waren. Als man sie aber genauer ansah, bewegten sie noch ihre Beine. Wir haben sie schnell nach draußen befördert.
Der folgende Tag begann mit ähnlich schlechtem Wetter, wie der Vortag endete. Wir fuhren noch einmal nach Monki, um Geld zu wechseln. Auf dem Rückweg ging es Ringo sehr schlecht, sodaß wir erstmal nach Goniądz zurückkehrten und Ringo sich hinlegte. Diana fror unterdessen im kalten Zimmer. Es gab zwar einen Ofen, aber kein Heizmaterial, und eigentlich war es auch fast Sommer, dem Kalender nach.
Als Ringo sich erholt hatte, fuhren wir in nördliche Richtung in den mittleren Teil des Nationalparkes. Wir hatten nichts verpaßt, denn das Wetter besserte sich nur langsam. Gern hätten wir eine Kanutour unternommen, um das Gebiet auch von der Wasserseite kennenzulernen, doch daran hinderten uns die Kälte und der Regen. Unser Weg, zwischen den Dörfern Dolistowo und Jasionow, schlängelte sich am Ufer der Biebrza entlang und war längst nicht so schlecht, wie im Naturreiseführer beschrieben. Wegen der interessanten Vögel am Fluß und auf den Wiesen verbat sich allzu schnelles Fahren sowieso. Hier konnten wir endlich einen Wiedehopf sehen. Um Kampfläufer zu sehen, war das Gras wohl schon zu hoch, aber wir entdeckten Kiebitze und einen Großen Brachvogel. Von einem großen Aussichtsturm beobachteten wir ein Reh. Daß wir wieder Elche sahen, muß fast nicht mehr erwähnt werden.
Auf dem Rückweg nach Goniądz sahen wir zwei Wiesenweihenmännchen.
Wir fuhren noch einmal zur Nationalparkverwaltung, um bei der dortigen Post endlich unsere Postkarten loszuwerden wollten, aber die hatte schon geschlossen, so entschieden wir, den in der Nähe ausgeschilderten Wanderweg entlangzulaufen. Er führte durch Bunkeranlagen und an der Biebrza entlang. Es war sehr windig und so brach direkt hinter uns von einer großen Pappel ein Ast ab. Ein Rohrweihenpaar schien nicht weit vom Weg entfernt zu brüten. Ganz erstaunlich fanden wir die hohe Dichte an Plastestörchen, die man hier und da auf Horsten stehen sehen konnte.
Zurück in Goniądz erholten wir uns kurz bei einer Suppe, dann ging es wieder Richtung Süden. Nahe bei unserem Zeltplatz, den wir am Vortag hatten verlassen müssen, gab es einen Rundwanderweg, an dem man Abend die Balzflüge der Doppelschnepfen, dieser aus Deutschland von seltenen Ausnahmen abgesehen vollständig verschwundenen Vögel, beobachten können sollte. Wir stellten das Auto im Wald ab und wanderten ziemlich weit einen Weg entlang, der voller Moorlöcher war. Wir wußten, daß die Jahreszeit schon weit fortgeschritten war und es schwierig werden würde, noch Doppelschnepfen an ihrem Balzplatz zu treffen. Immerhin sahen wir einen lang andauernden, wunderschönen Sonnenuntergang an einem Himmel, der so rot war, als würde er brennen.
Ringos Version vom Ende dieses Ausflugs lautet so: Da Diana zu früh zum Aufbruch mahnte, verließen wir den Ort, bevor die Doppelschnepfen eintrafen. Diana meint dagegen, daß, wenn sie Ringo nicht zur Rückkehr zum Auto überredet hätte, er dort wahrscheinlich immer noch auf die Doppelschnepfen warten, dem Sonnenuntergang zusehen und später vielleicht in der Dunkelheit kopfüber im Moor versinken würde.